Veränderung braucht Zeit – allein dieser Gedanke ist in der heutigen Situation beschleunigten Wandels Ketzerei. Slogans wie “Die Schnellen fressen die Großen” oder “Turnaround-Management ist Speed-Management” suggerieren, dass Geschwindigkeit im Wettbewerb der einzige entscheidende Faktor ist. Schneller, besser, billiger, der Konkurrenz immer einen Schritt voraus heißt die Devise. Als ob Beschleunigung Inhalte ersetzen könnte oder anders herum gedacht, als ob alle Menschen Hochleistungssportler wären, die man in jeder Disziplin zum Erfolg führen könnte.
Der Begriff der Zeit ist ein zunächst subjektives Konstrukt und deshalb nur bedingt allgemeingültig anwendbar. Was schnell oder langsam ist, hängt nicht in erster Linie von der “objektiv” gemessenen Zeitspanne ab, sondern von dem individuellen Empfinden. Für einen Menschen mit durchschnittlicher Denkgeschwindigkeit ist z.B. ein Visionär mit neuen Ideen und Konzepten, der ohne gründliches Reflektieren der Implikationen sofort weitergeht zu Strategien und Umsetzungsmöglichkeiten, ein Aktivist, mit dem man nur schwer mithalten kann und will.
Die Denkprozesse laufen in verschiedenen Geschwindigkeiten ab und zusätzlich mit anderen Inhalten. Zwar beschäftigen sich diese Inhalte mit der gleichen Zielprojektion, aber unter verschiedenen Perspektiven. Diese Perspektiven gilt es gerade bei Veränderungsprozessen auf die gleiche “Zeitebene” zu heben, da man sonst trefflich aneinander vorbei redet und die Eigenzeit des Vordenkers nicht zur Beschleunigung sondern zu Zeitverzögerungen führt. Der “High-Speed-Aktionismus” schießt wie ein reiterloses Rennpferd ohne verständliche Führung am Ziel vorbei bzw. der Reiter hat das Ziel vor Augen, aber kein Pferd mehr um dahin zu kommen.
Geschwindigkeit ist kein Selbstzweck, sondern dient lediglich dazu effizient ein Ziel zu erreichen. Voraussetzung ist, dass das Ziel von allen Betroffenen auch als solches akzeptiert wird. Rasches, zielorientiertes Handeln ist nur dann möglich, wenn alle notwendigen Ressourcen von den Beteiligten gebündelt werden.
Unterschiedliche Situationen erfordern unterschiedliche Formen von Zeitverläufen. Ein Pilot dessen Maschine sich auf Kollisionskurs befindet muss ohne Zweifel in Sekundenschnelle entscheiden, was zu tun ist. Um hier die richtige Entscheidung treffen zu können muss ein langjähriger Trainings- und Erfahrungsprozess vorausgegangen sein. So erhöht sich die Überlebenswahrscheinlichkeit. Auch hier ist Zeit – obwohl in Sekunden gemessen – als Reifeprozess über mehrere Jahre gewachsen. Dasselbe gilt für einen Sanierungsmanager. Seine zu treffenden Maßnahmen stehen unter einem enormen Zeit- und Erfolgsdruck und trotzdem ist seine Erfahrung von zeitlicher Machbarkeit für den Erfolg ausschlaggebend.
Alle Entscheidungen, ob aus der Situation heraus oder auf Grund reiflicher Überlegungen, sind das Ergebnis von Verlaufsprozessen. Welche Zeitverläufe “optimal” sind, hängt davon ab, wie groß der Druck ist, unter dem die Beteiligten stehen oder zu stehen glauben. Objektiv betrachtet könnte man sagen, dass eine Firma kurz vor der Insolvenz tagtäglich unter Zeitdruck steht. Die verantwortlichen Manager müssen ein hohes Tempo vorlegen. Die Frage, die sich dabei stellt, ist folgende: Wird meine Entscheidung dadurch besser, dass ich mich dem Zeitdruck beuge, noch mehr Gas gebe und allen Mitarbeitern meinen High-Speed Zeitverlauf aufdrücke? Oder muss ich zwar schnellere Entscheidungen treffen und mein Umfeld lediglich durch eine ausreichende Informationsstrategie auf deren Zeitverlaufsschiene bei der Stange halten? Veränderungsprozesse zielorientiert gestalten heißt die Eigenzeit nicht zum allgemeingültigen Maßstab zu erklären, sondern bewusst mit individuell angepassten Lernkurven den Druck aus dem System zu nehmen.
Die Zeitspanne ist die gleiche, ob man sie lachend oder weinend verbringt. Oder doch nicht? Zeitempfinden ist immer subjektiv, deshalb macht es einen entscheidenden Unterschied, ob man psychisch in guter oder schlechter Verfassung ist. Eine positive Grundgestimmtheit ist das Tor zu einem Zeitverlauf ohne Uhr, negative Dispositionen ziehen die Zeit in die Länge. Aus dem einfachen Grund weil man leidet und in der ewig gleichen Problemschleife gefangen ist: Man sieht nur das Problem und ist unfähig, sich auf mögliche Lösungswege zu fokussieren. Ein Mehr Desselben stellt keinen Erkenntnisgewinn dar, sondern nur eine wachsende Belastung, die das Zeitempfinden in die Länge zieht.
Das Leben findet in dem Augenblick statt, in dem ich lebe – in der aktuellen Sekunde des Jetzt. Deshalb ist das Leben immer gleich wertvoll, unabhängig davon, ob es ein junger Mensch lebt oder ein Neunzigjähriger. Auch wenn man “alles” schon erlebt hat, lebt man trotzdem nur in dem einen Augenblick. Und wen man alles noch vor sich hat, weiß man nie, ob es jemals eintritt. Nur das Hier und Jetzt ist wirklich!